Ibrahim aus unserer Gruppe hat folgenden Text geschrieben:
Es gab früher in Grossbritannien eine Tradition. Wenn einnormaler Bürger starb, klingelte die Kirchenglocke einmal, wenn es sich um Adlige handelte, zweimal, wenn es sich um jemand aus der Königsfamilie handelte, dreimal und wenn es sich um den König selbst handelte, klingelte die Kirchenglocke viermal. An einem Tag wurde eine Person von einem Gericht ungerecht verurteilt, daraufhin klingelte die Kirchenglocke fünfmal. Die Menschen sind neugierig zum Pfarrer gegangen und haben gefragt, wer diese Person sei, die wichtiger als der König ist? Der Pfarrer antwortete: „Es gibt etwas, was wichtiger als der König ist. Die Gerechtigkeit, die stirbt.“
Wenn ich zurzeit die Zeitungen aus der Türkei lese, wo die Partei der Gerechtigkeit (AKP) an der Macht ist, sehe ich, dass oft von Gerechtigkeit (Adalet) die Rede ist. Aktivitäten für Gerechtigkeit werden sowohl von Oppositionellen als auch von Aktivist/innen organisiert. Deswegen machte ich mir Gedanken, warum der Begriff den Alltag so stark prägt, obwohl so viele andere Probleme existieren. Ich denke, so wie der Pfarrer gesagt hat, ist die Gerechtigkeit entweder tot oder sie liegt im Sterben. Weil wir schon beim Thema Gerechtigkeit sind, wollte ich kurz schauen, was Aristoteles darüber denkt. Er meint, dass die Gerechtigkeit die ganze und vollkommene Tugend sei, dass sie alle Einzeltugenden umfasse und in der Befolgung der Gesetze bestehe. Im Vergleich zu Platon sieht er Gerechtigkeit nicht als etwas Abstraktes, sondern etwas Erreichbares und Menschliches an. Er geht davon aus, dass die Menschen fähig seien, zwischen gerecht sein und ungerecht sein zu unterscheiden. Seiner Meinung nach heisst ungerecht sein gesetzwidrig, unersättlich und ungleich sein. Und wer sich an die Gesetze nicht hält und immer mehr haben möchte, verursache selbst Ungerechtigkeit (Wikipedia).
Während ich die Erklärung von Aristoteles las, dachte ich mir, wenn die Gesetze bestimmen, ob jemand gerecht oder ungerecht ist, dann können die Regierungen Gesetze so anpassen, damit sie kein schlechtes Gewissen haben, weil sie Ungerechtigkeit verursacht haben. Was machen wir nun, wenn die Gesetzgeber selber ungerechte Gesetze schreiben oder sie ungerecht interpretieren? Es tut mir leid lieber Aristoteles, aber leider sind nicht alle Gesetze gerecht und menschlich und ich glaube nicht, dass alle Staaten mit deiner Definition einverstanden sind – Erdogans Staat sowieso nicht.
Das Land ist weltweit das grösste Gefängnis für Journalisten, Politiker/innen, Menschenrechtenaktivisten/innen geworden. Wenn man die Gerichtsprozesse beobachtet, ähneln sie einer Tragikomödie. Aber Erdogan glaubt, dass all diese Menschen in den Gefängnissen und im Exil ungerecht gehandelt haben. Es wird somit deutlich, dass er ein anderes Verständnis von Gerechtigkeit besitzt. Der Chef der „Partei der Gerechtigkeit“ hat das grösste Gerichtsgebäude in Istanbul gebaut, welches ironischerweise „Gerechtigskeitschloss“ heisst, damit die Gerechtigkeit im Land herrschen kann. In jedem Gerichtssaal hängt zudem folgender Spruch von Atatürk/Ömer: „Die Gerechtigkeit ist das Fundament des Staates “.
Die Gerechtigkeit war in der Türkei immer ein Thema, aber tragisch ist, dass sie von jedem Akteur zu seinen Gunsten interpretiert wird und er nicht davor zurückschreckt, diese auf Kosten der Menschenrechte durchzusetzen. Jetzt will der Staatschef Erdogan nicht nur die Todesstrafe wiedereinführen, sondern auch einheitliche Kleider für die politischen Gefangenen, die er als Terroristen ansieht – diese Bilder erinnern uns an die Gefangenen in Guantanamo mit ihrer orangenen Kleidung.
Lieber Aristoteles, jeder Mensch verdient, gerecht behandelt zu werden – sogar Erdogan, der wegen eines Gedichtes für zwei Monate im Gefängnis war und für dessen Freilassung sich damals Amnesty eingesetzt hat.
Solange die Menschen für Gerechtigkeit für alle und die Einhaltung der Menschenrechte kämpfen, ist die Hoffnung noch nicht gestorben, dass einmal die Gerechtigkeit in eine moderne und offene Türkei Einzug halten wird. Den Preis für diesen Kampf kennen wir als Menschenrechtaktivist/innen allerdings.
Ibrahim Akoezel-Bussmann